In der Gemeinde Bakum fest verwurzelt - Die Erinnerungen an Schlesien bleiben für immer

Ehepaar Martin und Margarete Ueberschär gehören zu den Gründungsmitgliedern des Heimatvereins Bakum

Quelle: Chronik 800 Jahre Vestrup

Seit 1946 leben die Geschwister Hildegard und Martin Ueberschär in der Gemeinde Bakum. Ihre Erinnerungen haben sie in der Vestruper Chronik ausführlich beschrieben. Diese bewegenden Lebensgeschichten sollen stellvertretend hier erwähnt werden für insgesamt 1400 Heimatvertriebene, die in Bakum unmittelbar nach der Flucht eine Unterkunft fanden. Hildegard und Martin Ueberschär kamen wie sehr viele Vertriebene aus Leisersdorf in Schlesien in die Gemeinde Bakum.

Hof von Familie Ueberschär in Leisersdorf / Schlesien.

Hildegard Überschär

Ich bin 1931 in Woitsdorf/Schlesien geboren. Mit meinen Eltern wohnte ich mit noch zwei Geschwistern, meiner Schwester Gertrud (geb. 1930) und meinem jüngeren Bruder Martin (geb. 1938), in Leisersdorf, Kreis Goldberg/Haynau, Regierungsbezirk Liegnitz. Zwei größere Brüder wohnten nicht mehr bei uns, da sie bereits zum Wehrdienst eingezogen waren. Das Dorf war etwas größer als Vestrup und hatte ca. 1000 Einwohner. Bei gutem Wetter konnten wir von uns aus die Schneekoppe, den höchsten Berg im Riesengebirge, sehen. Das Land war wie hier, hauptsächlich durch Landwirtschaft geprägt, aber hügeliger und landschaftlich schön gelegen.

Meine Eltern hatten einen Bauernhof und betrieben hauptsächlich Ackerbau. Als Kinder haben wir die ganzen Kriegswirren nicht in dem Maße mitbekommen wie die Erwachsenen. Not haben wir nicht gelitten.

Jetzt traf es uns selbst. Die Front rollte in Richtung Westen. Mein Vater wurde zum Volkssturm eingezogen und der Rest der Familie war auf der Flucht in westliche Gebiete. Es ging mit Kuh- und Pferdegespannen in Richtung Tschechoslowakei. Wir lebten auf der Straße und fanden Einquartierung in der Nähe von Hirschberg. Nachdem die Rote Armee über uns hinweg gerollt war, konnten wir zurück in unser Heimatdorf. Kurz vor Leisersdorf trafen wir unseren Vater wieder. Das Haus war geplündert. Zunächst hatten die Russen die Oberhoheit, später übte eine polnische Miliz die Polizeigewalt aus. Am Kriegsende wohnten wir dann in unserem früheren Haus, beengt in der Räumlichkeit, als Untermieter bei der polnischen Familie. Dazu möchte ich sagen, dass wir zu der polnischen Familie ein „annehmbares Verhältnis“ hatten. Die Polen hatten sich die Situation auch nicht freiwillig ausgesucht und waren im Prinzip genauso schlecht dran wie wir. Wir kamen leidlich zurecht.

Es war im Sommer 1946, als der Befehl der Besatzungsmacht kam, dass wir das Land zu verlassen haben. Sparbücher und Geld wurden uns abgenommen. Alles ging ganz schnell und wir durften nur mitnehmen, was wir tragen konnten. Deshalb zogen wir alles so lange übereinander an, wie es möglich war. Der Rest kam meist in Säcke und Bündel. Mehr konnte man nicht tragen. Mit Lastwagen wurde die deutsche Bevölkerung des ganzen Dorfes zum Sammelplatz an der Bahnhofsstation in Haynau gebracht. Auf diesem Weg wurden alle noch einmal nach Wertsachen und Schmuck durchsucht, die gefundenen Sachen nahm man uns ab. Die Familien blieben zusammen. Unsere Familie bestand aus beiden Elternteilen und uns drei Kindern.

Dort wurden wir in gedeckten Viehwaggons verfrachtet. Es war ein langer Zug mit zwei Lokomotiven. Wohin es ging, war keinem bekannt, außer, dass es in Richtung Westen gehen sollte. In unserem Wagen waren 36 Personen und zwei Katzen. Ein Eimer diente als Latrine für alle. Immer wenn der Zug einmal anhielt, wurde der Eimer geleert. Tagelang waren wir so unterwegs. Ab und zu gab es Verpflegung. Es gab Brote und Wasser. Ob uns die Russen oder Polen begleitet haben, weiß ich nicht mehr. Nach neun Tagen Fahrt kamen wir in Uelzen an. Dort wurden viele Formalitäten erledigt, Papiere geprüft, festgelegt in welche Richtung es weiter gehen sollte und wir bekamen Verpflegung, das erste warme Essen. Mit einem anderen Zug, wieder in Viehwaggons, ging es dann weiter. Das Ziel war uns nicht bekannt. Unterwegs, wenn der Zug auf Bahnhöfen hielt, wurden immer wieder Wagen abgehängt. Die Leute wurden dort verteilt. Für uns ging die Fahrt weiter und am 29. Juli 1946, (es war ein Montag), kamen wir gegen 09.30 Uhr auf dem Bahnhof in Vestrup an.

Hier am Bahnhof Vestrup war Endstation einer langen und menschenunwürdigen Reise. Niemand der Familie Ueberschär kannte den weiteren Lebensweg.

Wir waren in dem letzten Wagen, der abgekoppelt wurde. Die Sonne schien. Wir stiegen alle aus und warteten draußen im Freien auf das, was nun geschehen möge. Nach und nach wurden im Laufe des Tages die einzelnen Familien von Einheimischen abgeholt und im Dorf zur Einquartierung verteilt. Das alles zog sich hin. Ich denke heute, dass die Dorfbevölkerung mit der Situation auch überfordert war, plötzlich so viele Leute aufnehmen zu müssen.
Mir ist nicht bekannt, ob sie darauf vorbereitet wurden oder ob es einen Plan gab.

Ich nehme an, dass sporadisch entschieden wurde, wie das Problem gelöst werden konnte. Gegen 19.00 Uhr gab es von der Wirtin der Bahnhofsgaststätte einige Butterbrote und später  brachte sie uns noch eine Pfanne Bratkartoffeln für alle heraus.

Als es schon dämmerte, kam der damalige Ortsvorsteher mit einem pferdebespannten Ackerwagen und holte unsere Familie ab. Wir waren die Letzten. Da wir mit fünf Personen waren und viele Quartiere wahrscheinlich schon belegt waren, wurden wir zunächst getrennt untergebracht.

Die Unterbringung meiner Eltern hatte wohl nicht geklappt und der Bezirksvorsteher hat sie dann gegen Mitternacht wieder aufgelesen und dann noch bei sich untergebracht. In ein Zimmer wurde Stroh gelegt und das war dann die Behelfsschlafstätte.

Die Einwohner hier sprachen eine Mundart, die wir nicht verstehen konnten. Wir waren komplett fremd. Es war sehr schwierig für alle, obwohl die Leute freundlich waren. In den nächsten Tagen, als sich alles einigermaßen beruhigt hatte und man mehr Übersicht bekam, wurden die Leute anders aufgeteilt, um auch die Familien zusammenzuhalten.

Ich wechselte zu Koops. Dort blieben wir. Wir hatten ein gutes Verhältnis zu der Gastfamilie. Ich habe mitgeholfen wo Arbeit war (Haus, Hof und Garten) und Koops haben mich sogar kranken- und sozialversichert.

Noch vor der Währungsreform wurde der alte Fachwerkviehstall, der bei Koops im Hof stand, abgebaut und für uns da, wo er jetzt steht, wieder aufgebaut. Das wurde dann für unsere Familie die neue Heimat.

Mein Vater starb 1954 und meine Mutter 1976. Beide sind hier in Vestrup begraben. Von den vielen Schlesiern, die hier zunächst untergekommen waren, zogen später einige weiter, zum Beispiel nach Solingen und ins Rheinland.

Was die Kirche angeht, so haben wir in der Anfangszeit unsere Gottesdienste im Saal der Gaststätte Hönemann gefeiert, da fast alle Flüchtlinge evangelisch waren. Später durften wir mit dem Einverständnis von Pastor Dammann mit unserem evangelischen Pastor Grebe auch die Vestruper Kirche benutzen.

Für meine Eltern war die Vertreibung mit Sicherheit schmerzlicher und schwieriger als für mich. Meine Eltern haben wahrscheinlich, zumindest vorübergehend, ihre Identität verloren und schwer gelitten. Verlust der Heimat, Verlust von Hab und Gut, anderer Beruf und die anfängliche Hilflosigkeit in der fremden Welt.

Ich war damals 16 Jahre alt und habe mich leichter eingelebt. In Vechta und Lohne fand ich später Arbeit. Auch wegen der Arbeitsstelle ging ich 1952 für 10 Jahre nach Oldenburg. Danach war ich noch kurze Zeit im Bergischen Land, in Wipperfürth und im Rheinland. Danach war ich wieder in Vestrup.

Aus meiner Befindlichkeit heraus fühle ich mich hier aufgenommen und auch angenommen. Plattdeutsch habe ich auch gelernt und ist mir nicht mehr fremd. Meine beiden großen Brüder haben den Krieg überstanden und sind nach dem Krieg in der DDR sesshaft geworden. Mein jüngerer Bruder Martin lebt in Bakum. Meine Schwester Gertrud lebt in Oldenburg.

Möge das inzwischen vereinte Europa verhindern, dass nachfolgenden Generationen ein ähnliches Flüchtlingsdrama widerfährt.
[Hildegard Ueberschär)

 

Martin Ueberschär, damals 8 Jahre alt, kann sich ebenfalls noch an Einzelheiten der Flucht erinnern. Häufig musste er in Vestrup die Schlafstätten wechseln. Er pendelte zwischen Schuster Nipper und Bauer Niemann. „Bei Nipper bekam ich Essen und durfte mich tagsüber dort aufhalten. Zum Schlafen musste ich wieder zu Bauer Niemann, weil bei Nipper wirklich kein Bett mehr frei war. Nach einigen Tagen hat Herr Nipper dann für mich beim Schmied Lamping nebenan eine Schlafstelle gefunden und so hatte ich abends und morgens nur einen kurzen Weg. Bei der Familie Nipper wurde ich sehr gut aufgenommen.

Martin (1949) nach der Vertreibung aus Schlesien fand schnell Kontakt zu den Kindern in Vestrup. Hier besuchte er die Vestruper Schule. Nach der Schulzeit begann die Lehre zum Stellmacher bei Fritz Hellbernd in Bakum.

Nach drei bis vier Wochen kam Hilde von Meyer zu Garwing und meine Eltern konnten eine kleine Kammer bei Schierholt beziehen. Von dort ging mein Vater täglich zu Bauer Kellermann nach Hausstette und arbeitete dort als Knecht. Ich weiß nicht, wie ihm zu Mute war, als zuvor selbständiger Landwirt jetzt als Knecht zu arbeiten. Jedenfalls hatte er Arbeit und lag keinem auf der Tasche.

Irgendwann wurden bei Koops am Feldkamp 2 Zimmer frei, weil eine Familie verzog.

Im Hause Schierholt fanden die Eltern Martha u. Alfred Ueberschär für einige Zeit ein Unterkunft. Ebenfalls wohnte hier die Familie des Pastor Grebe.

Die Silberhochzeit feierte das Ehepaar Alfred und Martha Ueberschär Anfang der 50iger Jahre in Vestrup mit Freunden und Bekannten, besonders auch mit Heimatvertriebene aus Leisersdorf, die ebenfalls in der Gemeinde Bakum ein neues Zuhause gefunden hatten.

In diese Zimmer konnten meine Eltern ziehen und ich kam nach gut 9 Monaten wieder zu meinen Eltern.

In meinem Heimatort Leisersdorf wurde ich damals noch eingeschult. Jedoch schon nach einem viertel Jahr wurden die Lehrkräfte zum Kriegsdienst eingezogen, die Schule wurde geschlossen und mir fehlten inzwischen durch die Kriegswirren und Vertreibung gut eineinhalb Jahre Schulunterricht.

Somit fing ich in Vestrup wieder im ersten Schuljahr an. Dank der Lehrer und des mehrklassigen Schulsystems war es mir möglich, das dritte und vierte Schuljahr und auch das siebte und achte Schuljahr in einem zu beenden. Damit konnte ich mit einem Abschlusszeugnis entlassen werden. Das war für mich wichtig, da man ohne dieses Entlassungszeugnis keine Lehrstelle antreten konnte.

Die Familie Ueberschär vor ihrem neuen Zuhause in Vestrup, v. li. Hilde, Mutter Martha, Martin, Vater Alfred und Gertrud.

Zu unseren Gastgebern, Familie Koops, entwickelte sich ein sehr gutes Verhältnis im täglichen Leben. An einem Sonntagmorgen waren Georg Koops und mein Vater auf einem Spaziergang. Als sie zurückkamen, gab es für uns alle eine Neuigkeit. An der großen Diele bei Koops stand ein kleiner Fachwerkstall, der damals für Schweine und Schafe angebaut war. Dieser Stall sollte abgebaut und versetzt werden, um uns als neue Behausung zu dienen. Da mein Vater auch gelernter Zimmermann war, war er mit diesen Arbeiten vertraut. Es dauerte nicht lange und wir hatten ein kleines Häuschen an der Stelle wo meine Schwester Hildegard viele Jahre wohnte.

Wegen des Glaubens gab es damals auch oft Probleme, weil die meisten Flüchtlinge evangelisch waren und in einem katholischen Umfeld untergebracht wurden. Da prallten Welten aufeinander.

Es gab aber auch hier gute Seiten. Zunächst mussten die evangelischen Gottesdienste mangels einer Kirche, im Saale Hönemann abgehalten werden. Da aber der evangelische Pastor Grebe, der bei Schierholt wohnte, mit dem katholischen Pastor Dammann ein gutes Verhältnis hatte, ließ dieser es zu, dass wir unseren Gottesdienst auch in der katholischen Kirche feiern konnten. Zunächst sonntags von 12.30 bis 13.30 Uhr und später um 16 Uhr. Die Glocken durften geläutet und die Orgel benutzt werden. Das war ein großes Entgegenkommen.

Pastor August Dammann und Pastor Friedrich Grebe

Das Bild zeigt die Familien Schierholt und Grebe. Vorne sitzend v. li. Antonia Willenbrink, Reinhard Grebe, Jost Grebe und Gerd Grebe, hinten v. li. Eva Grebe, Waltraud Grebe und Frau Schierholt.

Martin Ueberschär als Konfirmant in Vestrup. Das Leben hatte sich ein wenig verbessert.

Später habe ich in Bakum, bei Fritz Hellbernd an der Büscheler Straße, eine Stellmacherlehre gemacht und bin auch in Bakum heimisch geworden.

Wir haben hier eine neue Heimat gefunden. Die alte Heimat in Schlesien zu besuchen ist schon lange möglich. Das Haus unserer Familie steht noch, die Bewohner waren freundlich zu uns und wir haben Erinnerungen aufgefrischt, die wir nicht noch einmal durchmachen möchten. Die Kriegsgeschichte hat Fakten gesetzt, die viele Unschuldige haben ausbaden müssen.

Margarete u. Martin Ueberschär v. li.  sind regelmäßige Besucher bei Veranstaltungen im Heimathaus. Über viele Jahre berichtete Margarete anlässlich der Adventsfeiern im Heimathaus von Tradtitionen zur Weihnachtszeit aus ihrer schlesischen Heimat. Mit auf dem Foto  sind Otto Fraas und Franz-Josef Göttke.

Viele Jahre prüfte Martin Ueberschär (li) die Kasse des Heimatvereins Bakum. Hier im Jahre 1994 mit Walter Zurborg als Vorsitzender des Heimatvereins. Bei Gründung des neuen Heimatvereins im Jahre 1991 war es für Martin und Margarete Ueberschär eine Selbstverständlichkeit, Mitglied des neuen Vereins zu werden


Leider sind im Archiv keine Bilder der Jahre 1945 bis 1949 vorhanden. Die Menschen hatten andere Probleme und Fotografieren war nur selten möglich. Gerne nimmt der Heimatverein Bilder aus dieser Zeit zum Digitalisieren entgegen.



Der Heimatverein Bakum finanziert sich zum größten Teil aus den Beiträgen der Mitglieder (aktuell 640 Mitglieder) Gerne möchten wir diese Zahl in nächster Zeit erhöhen. Falls noch keine Mitgliedschaft besteht, hier kann die Mitgliedschaft erworben werden.